josef osterwalder
Dutzende von Leierkästen bereiten der Stadt ein Drehorgelfest
Am meisten fasziniert von den Drehorgeln sind die Besitzer selbst. Gut 35 kamen am Samstag aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen, zum St. Galler Drehorgelfest.
Der kleine Knirps kann es kaum fassen. Da ertönt nicht nur das Lied vom «Vreneli
ab em Guggisberg», da findet gleich ein ganzes Dorftheater statt: Der Wächter
dreht sich majestätisch auf dem Turm, die musikalische Kuh muht im Takt, der
Bauer verschlingt massenweise Knödel und ab und zu schaut ein Teufel aus dem
Kamin, welche Laster es sonst noch gebe. Das ganze musikalische Theater findet
deshalb statt, weil Hildegard Oberholzer aus Uznach eine Kurbel dreht, die
gleichzeitig Blasbalg, Musikwalze und Figuren in Bewegung setzt.
Ein Fall für Tüftler
Diese «Figurenorgel» wurde 1985 in Lörrach für Gallus und Hildegard
Oberholzer hergestellt, und zwar vom Elektroingenieur Hansjörg Leible, der
eines Tages entdeckt hatte, dass das Leben nicht nur aus Strom besteht. Von
diesem Moment an begann er, Orgeln zu bauen. Gut 35 Orgeln gab es am Samstag in
der Altstadt zu bewundern. Werner Thönig hat bereits sein fünftes
Drehorgelfest auf die Beine gestellt. Keine leichte Angelegenheit, denn ohne
Unterstützung einzelner Firmen lässt sich ein solches Fest nicht finanzieren.
Zudem braucht es Passanten, die für das Festabzeichen ins Portemonnaie greifen
oder für einmal ihren Saft in der Drehorgelbeiz trinken.
Bummeln und walzern
Immerhin, die Stadtbummler geniessen es, zum Klang der Leierkästen durch die
Gasse zu walzern. Sie betrachten die kunstvoll gefertigten Orgeln, die Bilder
und Figuren, die nostalgischen Kostüme der Leiermänner und -frauen. Und sie
singen auch mit, wenn ein «Schlenkerle», ein Drehorgellied, angestimmt wird.
Zudem sind die Männer und Frauen an den Kurbeln gerne bereit, alle Fragen zu
ihrem Hobby zu beantworten. Was den Preis eines Instruments betrifft: Er liegt
mindestens bei einem Mittelklassewagen. Die Berufung zum Hobby kann ganz
verschieden erfolgen. Im einen Fall ist es ein Möbelschreiner, der einsieht,
dass man aus Holz noch weit mehr machen könnte als Tische und Schränke. In
einem andern Fall ist es ein Mechaniker, den die in der Orgel verpackte Tüftelei
begeistert. Hans Baur aus Wittenbach wiederum hörte eines Tages in der Altstadt
einen Ton, der ihn faszinierte. Er ging ihm nach, kam bei einer Drehorgel - und
damit bei seinem neuen Hobby an.
Zur Lebensmitte
Was auffällt an der Biografie der Drehörgeler: Die meisten haben ihr erstes
Instrument zur Lebensmitte angeschafft. Zu einem Zeitpunkt, als sie der Mechanik
des Lebens überdrüssig geworden sind, finden sie ein Instrument, welches
mechanischen Trott in Musik verwandelt - in «liebevolle, traurig heitere Töne»,
wie Goethe den so eigenen Klang der «durchgespielten Leier» nannte.
Tagblatt-Online Archiv © by St. Galler Tagblatt AG