Tagblatt vom 20.8.2001, Stadt St. Gallen

josef osterwalder


Der Dreh mit der Orgel

Dutzende von Leierkästen bereiten der Stadt ein Drehorgelfest

Am meisten fasziniert von den Drehorgeln sind die Besitzer selbst. Gut 35 kamen am Samstag aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen, zum St. Galler Drehorgelfest.

 

Der kleine Knirps kann es kaum fassen. Da ertönt nicht nur das Lied vom «Vreneli ab em Guggisberg», da findet gleich ein ganzes Dorftheater statt: Der Wächter dreht sich majestätisch auf dem Turm, die musikalische Kuh muht im Takt, der Bauer verschlingt massenweise Knödel und ab und zu schaut ein Teufel aus dem Kamin, welche Laster es sonst noch gebe. Das ganze musikalische Theater findet deshalb statt, weil Hildegard Oberholzer aus Uznach eine Kurbel dreht, die gleichzeitig Blasbalg, Musikwalze und Figuren in Bewegung setzt.

Ein Fall für Tüftler

Diese «Figurenorgel» wurde 1985 in Lörrach für Gallus und Hildegard Oberholzer hergestellt, und zwar vom Elektroingenieur Hansjörg Leible, der eines Tages entdeckt hatte, dass das Leben nicht nur aus Strom besteht. Von diesem Moment an begann er, Orgeln zu bauen. Gut 35 Orgeln gab es am Samstag in der Altstadt zu bewundern. Werner Thönig hat bereits sein fünftes Drehorgelfest auf die Beine gestellt. Keine leichte Angelegenheit, denn ohne Unterstützung einzelner Firmen lässt sich ein solches Fest nicht finanzieren. Zudem braucht es Passanten, die für das Festabzeichen ins Portemonnaie greifen oder für einmal ihren Saft in der Drehorgelbeiz trinken.

Bummeln und walzern

Immerhin, die Stadtbummler geniessen es, zum Klang der Leierkästen durch die Gasse zu walzern. Sie betrachten die kunstvoll gefertigten Orgeln, die Bilder und Figuren, die nostalgischen Kostüme der Leiermänner und -frauen. Und sie singen auch mit, wenn ein «Schlenkerle», ein Drehorgellied, angestimmt wird. Zudem sind die Männer und Frauen an den Kurbeln gerne bereit, alle Fragen zu ihrem Hobby zu beantworten. Was den Preis eines Instruments betrifft: Er liegt mindestens bei einem Mittelklassewagen. Die Berufung zum Hobby kann ganz verschieden erfolgen. Im einen Fall ist es ein Möbelschreiner, der einsieht, dass man aus Holz noch weit mehr machen könnte als Tische und Schränke. In einem andern Fall ist es ein Mechaniker, den die in der Orgel verpackte Tüftelei begeistert. Hans Baur aus Wittenbach wiederum hörte eines Tages in der Altstadt einen Ton, der ihn faszinierte. Er ging ihm nach, kam bei einer Drehorgel - und damit bei seinem neuen Hobby an.

Zur Lebensmitte

Was auffällt an der Biografie der Drehörgeler: Die meisten haben ihr erstes Instrument zur Lebensmitte angeschafft. Zu einem Zeitpunkt, als sie der Mechanik des Lebens überdrüssig geworden sind, finden sie ein Instrument, welches mechanischen Trott in Musik verwandelt - in «liebevolle, traurig heitere Töne», wie Goethe den so eigenen Klang der «durchgespielten Leier» nannte.

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